Gorgo

Also zweimal ganz sicher, vielleicht sogar noch öfter habe ich zusammen mit meinen Kindern die Geschichten von Nils Holgersson und seiner wunderbaren Reise mit den Wildgänsen im Kinderkanal als Zeichentrickserie angeschaut. Das gehörte lange Zeit zum Abendritual in der Familie und ich habe selten eine der 52 Folgen verpasst.

Eine Figur ist mir besonders nachhaltig in Erinnerung geblieben: Gorgo, ein Adler, den Nils aus einem Käfig im Zoo befreit. Nils erfährt, dass Gorgo von Akka von Kebnekajse, der Anführerin seiner Wildgänseschar aufgezogen wurde. Traurig und verunsichert sehnt sich Gorgo im Zoo nach seiner „Mama“ und der Geborgenheit in der Gemeinschaft mit den Wildgänsen. Und dennoch braucht es viel Zuspruch und Überredung durch Nils, bis Gorgo sich traut, seinen Käfig zu verlassen und den Wildgänsen hinterherzufliegen.

Er verbringt schließlich einen wunderschönen Sommer in Lappland zusammen mit der Wildgänseschar und ihrem Nachwuchs. Für Gorgo ist die Welt in Ordnung. Doch als die Wildgänse in den Süden zurückfliegen, beschließt Akka schweren Herzens, ihren Ziehsohn Gorgo zurückzulassen. Sie zwingt ihn damit, sein Adlersein für sich zu akzeptieren und entsprechend zu leben, auch wenn der Abschied schwerfällt und Gorgo sich zunächst dagegen wehrt.

Sie erkennen vermutlich ähnlich wie ich unschwer die beiden wesentlichen Motive dieser Geschichte, die auch im menschlichen Leben häufig eine große Rolle spielen: Die Aufgabe, einen „Käfig“ zu verlassen, der nicht nur die Freiheit beschränkt, sondern auch Sicherheit bietet; und das innere Zögern und Sträuben, den eigenen Weg zu gehen, weil wir dann auch mal Abschied nehmen müssen von anderen Menschen, die uns ans Herz gewachsen sind.

Der eigene Käfig muss gar nicht mal sprichwörtlich golden sein, um mir den Gang in die Freiheit zu erschweren. Alles über längere Zeit Gewohnte und Vertraute vermittelt nunmal Sicherheit; und die viel gepriesene Freiheit löst Ängste aus; desto stärker je konkreter ich sie in Anspruch nehmen könnte. Und wer nimmt schon gerne Abschied von lieb gewonnenen Menschen? Dann doch lieber alles so lassen wie es ist, es ist ja schließlich auch vieles gut. Nur ein leises Grummeln bleibt dann; das wird manchmal lauter und erinnert mich daran, dass ich am Ende des Lebens vermutlich weniger die Dinge bedauere, die ich gemacht habe, als die, die ich nicht gemacht habe.

Im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit frage ich mich dann immer, wieviel Gorgo gerade in mir wirksam ist. Und eigentlich will ich schon gerne Adler sein und fliegen. Sie auch? Na dann los!

 

Herzlichst

Ihr Rainer Hörmann